Wir sind in La Paz.
Vom La Cumbre Pass kommend, liegt die Stadt malerisch in einem Talkessel vor uns. Aber das täuscht, die Einfallstraße durch die Vororte ist überhaupt nicht malerisch, sie ist steil und marode. Das nötigt uns, im Slalom die Löcher im Asphalt zu umfahren. Der Gegenverkehr und die vielen LKW’s vereinfachen das Ganze nicht gerade.
Zusätzlich werkeln überall die Mechaniker am Straßenrand oder deren Beine ragen unter den Autos hervor. Wie in allen Städten Südamerikas, liegen auch in La Paz die Werkstätten der Automechaniker am Ortseingang. Hier ist kein Platz für große Garagen, es gibt nur einen kleinen öligen Raum für Werkzeuge. Die Reparaturen werden davor auf der Straße durchgeführt.
Dann müssen wir noch einmal mittendurch, bis wir auf unserem Stellplatz am Hotel Oberland ankommen.
Uns ist zu diesem Zeitpunkt nicht klar, dass wir das wahre Chaos der Stadt überhaupt noch nicht kennen.
Für den nächsten Tag haben wir uns mit Gert von Tour La Paz für eine ganztägige Stadtführung verabredet. Gert lebt seit 42 Jahren in La Paz und kennt die Stadt wie seine Westentasche.
Vorab kurze Infos aus dem Reiseführer:
- La Paz ist Regierungsstadt von Bolivien, Hauptstadt ist Sucre.
- La Paz ist mit 3800 m die höchst gelegene Regierungsstadt der Welt und hat innerhalb der Stadtgrenzen einen Höhenunterschied von fast 1000 m.
- Hat 2,7 Millionen Einwohner
- In El Alto, bis 1983 ein Stadteil von La Paz, leben 1 Million Menschen.
- Beide Städte leiten sämtliche Abwasser ungereinigt in die Flüsse.
- Die tiefer gelegenen Stadtteile, windgeschützt im Talkessel, gehören zu den bevorzugten Wohngegenden, hier ist es fast 10 Grad wärmer als in El Alto auf 4000 m .
- Mit den mittlerweile 10 verschiedenen Seilbahnen lässt sich die Stadt bequem erkunden.
So ist auch der Plan für die Stadtführung. Gert holt uns früh um 9 im Hotel ab.
Auf dem Weg zur Seilbahnstation erzählt er uns über die politische Vergangenheit des Landes.
Von der Euphorie und Aufbruchstimmung, als sich 2005 der Cocabauer und Gewerkschaftler Evo Morales zur Wahl des Präsidenten aufstellte. Bis dahin war die indigene Mehrheit des Landes überhaupt nicht politisch vertreten. Mit einer Mehrheit von 52 % wurde der Cocabauer zum ersten indigenen Präsidenten ganz Südamerikas gewählt.
Unter seiner Präsidentschaft wird die Verfassung geändert.
Bolivien ist jetzt ein plurinationaler Staat, in dem alle 36 Ethnien mit ihrer Kultur und Sprache gleichberechtigt leben. In den Grundschulen wird neben Spanisch auch eine indigene Sprache unterrichtet.
Alle Öl -und Gasquellen wurden verstaatlicht. Das hat zuerst mal Steuern in die Staatskasse gebracht. Im Nachhinein war’s nicht ganz so viel, weil der Staat alle Schadensersatzklagen gegen amerikanische Ölkonzerne verloren hat.
Schulen, Straßen und Fußballplätze wurden gebaut.
Leider hat er sich im Laufe seiner 13 jährigen Amtszeit zu einem autokratischen Herrscher entwickelt. Die Korruption in der Regierung war nie so schlimm wie heute, und politische Gegner verschwinden im Nirvana der berüchtigten Gefängnisse des Landes.
Als ihm bei den Wahlen 2019 Wahlbetrug nachgewiesen wurde und die Bevölkerung seinen Rücktritt forderte, ging er freiwillig ins Exil. Jetzt ist er wieder zurück, um sich als Kandidat für die Präsidentschaftswahlen 2025 aufstellen zu lassen.
Wir fahren mit der Seilbahn quer über die Häuser der Stadt nach El Alto. Unten schweben wir vorbei an modernen Hochhäusern und sehen in die großen Fenster der Villen, in mit Mauern und Security gesicherten Siedlungen. Mit der Höhe sinkt gleichzeitig der Komfort.
Von einem Aussichtsturm haben wir einen tollen Blick über die Stadt. Wir gehen weiter zu der Straße der Heiler.
In langen Reihen stehen hier kleine Buden, in denen die Yatiris/Heiler ihre Dienste anbieten. Auch Touristen können sich hier die Zukunft aus Cocablättern lesen lassen. Wir haben an einer solchen Zeremonie kein Interesse, aber Gert findet eine Yatiri, die uns über ihre Arbeit, und wie sie dazu berufen wurde, erzählt.
Viele Bolivianer holen sich regelmäßig den Rat einer Yatiri. Bei Krankheiten, aber auch als Beratung in allen wichtigen Lebenslagen wie Heirat, Ehekrise oder Arbeitsplatzwechsel, der Liebe und, und, und.
Kein Haus wird gebaut, ohne dass in einer Zeremonie durch einen Heiler der Mutter Erde, Patchamama, oder den Bergen, die im Glauben der Aymara Kraftzentren sind, Opfer dargebracht werden. Bei einfachen Häusern sind es Lamaföten, aber bei großen Bauten kann es auch heute noch vorkommen, dass Menschen geopfert werden.
Beim Bummel über den Hexenmarkt sehen wir allerlei kurioses für die Opferzeremonien. An vielen Ständen werden Naturheilmittel angeboten.
Eine Gasse weiter bieten Schuster, Hutmacher und Schneider ihre Waren an. Hier können sich die Cholitas komplett einkleiden. Sie tragen weite Faltenröcke mit bis zu 6 Unterröcken und dazu den Bolder Hut. Das ist nicht die traditionelle Kleidung der Indigenen, sondern wurde bei den Damen der Konquistadoren aus Spanien abgeguckt.
Wir stärken uns bei einem Mittagessen und nehmen die Gondel zum Regierungsbezirk..
Um den Plaza de Murillo stehen die Regierungsbauten. Evo Morales will die Bolivianer entkolonialisieren und setzt gegen alle Widerstände die monumentalen Bauten des Regierungspalastes und des Parlamentsgebäudes durch. Ihre Größe soll die Überlegenheit der Indigenen über die alte Regierung, von der die Indigenen systematisch ausgeschlossen wurden, symbolisieren.

Wir sehen das Theater, eine Galerie, die Kathedrale und den Plaza San Francisco mit Geschichtenerzählern, Clowns und Akrobaten. Als wir am Ende der Tour in der Gondel sitzen, ist es schon halb neun. Der Tag war lang, aber nicht einen Moment langweilig.
Kurz bevor wir aussteigen, treffen wir Andrea und kommen ins Gespräch. Sie arbeitet in El Alto bei dem Projekt Suma. Das ist eine Einrichtung, die Prostituierte unterstützt, einen Weg aus der sexuellen Abhängigkeit zu finden. Das weckt unser Interesse und Andrea erklärt sich bereit, uns übermorgen ihren Arbeitsplatz zu zeigen.
Das war für einen Tag ziemlich geballter Input. Die Tour mit Gert ist aber auf jeden Fall empfehlenswert.
Auf den nächsten Tag freue ich mich besonders. Wir sind am Abend mit Paola und Ihrer Schwester Ximena verabredet. Die Beiden waren vor 22 Jahren als Austauschschülerinnen in Deutschland. Von Andrea, der Schülerin, die bei uns wohnte, habe ich leider keine Kontaktdaten.
Paola gehört eine Crêperie, dort werden wir uns treffen.
Auf dem Weg dahin kommen wir am Hard Rock Café vorbei und müssen da natürlich einkehren. Durch große Fenster hat man einen schönen Blick auf die Straße und wir fühlen uns wie in ein anderes Land gebeamt. Ein SUV nach dem Anderen fährt vorbei, BMW, Porsche und andere Nobelkarossen. Die hab ich hier in Bolivien noch nie gesehen.

Es ist ein schönes Wiedersehen und wir verbringen einen unterhaltsamen Abend mit den beiden jungen Frauen. Ich wundere mich, wie gut sie sich an die Zeit in Deutschland erinnern.
Paola und Ximena, Geschäftführerin von Lana, einem Laden für Fairtrade hergestellte Alpakastrickwaren, sind zwei moderne selbstständige Frauen. Die Schere zwischen diesen modernen, weltoffenen Frauen und den nach alten Traditionen lebenden Menschen vom Land scheint mir riesig.
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